Wenn Guuleed Ahmad mit seinem weissen Hybrid durch Somalilands Hauptstadt Hargeisa fährt, redet er gern von den Millionen Dollars, die hier überall herumliegen: am Strassenrand, entlang den Mauern, zwischen den Häusern und auf dem Markt, unter den Brücken und in den Innenhöfen der Restaurants. Millionen über Millionen, um die sich angeblich niemand schert.
Dabei geht es dem 38-jährigen Somaliländer, der seine Jugend in Deutschland verbrachte, eigentlich gar nicht ums Geld. Er will mehr. Der Mann will sein Land retten, vor Armut und vor Hunger. Und er kennt die Lösung, die irgendwie kompliziert klingt, aber angeblich ganz einfach ist: Prosopis juliflora.
Der lateinische Name steht für ein tropisches Mimosengewächs, auch Mesquite genannt, das ursprünglich aus Mexiko, Mittelamerika und dem nördlichen Südamerika stammt. Der holzige, mit Dornen besetzte Strauch wächst rasch zu einem stattlichen Baum von über einem Meter Durchmesser und bis zu zwölf Metern Höhe heran. Seine Blätter sind immergrün und gefiedert, die Schoten enthalten bis dreissig Samen – ein ausgereifter Baum kann im Jahr über eine halbe Million davon produzieren.
Weil sich die schnellwachsenden Wurzeln fünfzig und mehr Meter in die Tiefe graben, kommt der Baum auch in unwirtlichen Gebieten und während Dürrezeiten noch zu Grundwasser, während andere Pflanzen längst verdorren.
Derart anspruchslos und dürreresistent, wurde die Prosopis ganz bewusst auch in anderen Teilen der Welt angepflanzt, so vor allem in Trockengebieten, die 40 Prozent der Erdoberfläche ausmachen. In Somaliland tauchte sie zuerst in den 1950er- Jahren auf und dann vor allem während der Hungerkatastrophe am Horn von Afrika Mitte der 1980er-Jahre. Der neue Baum, von den Einheimischen Granwaa – der Unbekannte – genannt, sollte Schatten spenden, Wüstenwinde brechen, Versteppung und Erosion aufhalten, Brennholz liefern, vor allem aber: Schafe, Ziegen und Kamele ernähren.
Inzwischen herrscht schon wieder Dürre in diesem Land, das sich 1991 nach einem blutigen Bürgerkrieg und dem Sturz des Diktators Siad Barre vom übrigen Somalia abspaltete, bis heute aber von der internationalen Gemeinschaft nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird. Im globalen Hungerindex steht Somaliland zusammen mit Somalia ganz zuoberst, sieben Millionen Menschen – das ist fast die Hälfte der Bevölkerung in dieser Region – sind akut von Hunger betroffen.
Kommt hinzu, dass Somaliland 90 Prozent seines Weizens per Schiff aus der Ukraine bezieht. Nach Ausbruch des Krieges im Februar und der Schliessung des Hafens in Odessa wurde die Einfuhr gestoppt, die Preise auf den übrigen Weizen schnellten in die Höhe, viele Viehhirten können sich das daraus gewonnene Tierfutter nicht mehr leisten.
Wird die Prosopis juliflora für die Menschen am Horn von Afrika erneut zur Hoffnung?
Anders als vor vierzig Jahren ist die Pflanze inzwischen aber zur Bürde geworden. Weil die Tiere die Samen nicht verdauen können und mit dem Kot ausscheiden, hat sich die invasive Pflanze unkontrolliert und in rasantem Tempo ausgebreitet, sie überwuchert Weideflächen, saugt Wasser ab, verdrängt einheimische Arten. Allein in Somaliland nimmt die Prosopis nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO inzwischen 550 000 Hektare Land ein, der jährliche Zuwachs an Fläche liegt zwischen fünf und fünfzehn Prozent. Die Pflanze taucht in der Liste der 100 weltweit gefährlichsten invasiven Arten auf, und seit 2019 ist es verboten, sie nach Europa zu importieren oder im EU-Raum zu kultivieren.
Wo andere eine Plage befürchten, sieht Guuleed Ahmad das Potenzial der Prosopis. Als er 2017 aus Deutschland nach Somaliland zurückkehrte, traf er auf Thomas Hoerz, Agraringenieur bei der Welthungerhilfe, der schon in den 1990ern in Kenia mit der Prosopis in Kontakt kam und seither immer wieder Projekte anregte. Damals gab es einiges an Forschung über den Nutzen der Pflanze, aber kaum jemand, der das in die Praxis umsetzte.
Guuleed Ahmad packte die Chance, er verkaufte sein Auto und investierte das Geld in die Gründung der Firma «LanderProsopis». Ausserhalb von Hargeisa mietete er sich ein Grundstück, importierte einen speziellen Ofen, der das Holz nicht verbrennt, sondern nur erhitzt, hackte Prosopisbäume und machte Holzkohle daraus. Unterstützung bekam er vom Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) zur Förderung junger Unternehmer. Bis heute beliefert er mit seiner Prosopiskohle Restaurants, er verkauft den Sack à 25 Kilogramm zu 14 Dollar. «Das ist unter dem üblichen Marktpreis. Zudem glüht Prosopiskohle länger als die Kohle von anderen Bäumen, man braucht also weniger Holz.» Guuleed Ahmad ist überzeugt, die Sache wird rentieren. «Holzkohle ist der wichtigste Brennstoff im ganzen Land.»
Das eigentlich Wundersame der Prosopis aber sieht Guuleed Ahmad, der seinen eigenen Ideen und Projekten immer schon einen Schritt voraus ist, in ihren reifen, gelben, zu einem Halbmond gerundeten, zwanzig Zentimeter langen Schoten. Neben seinem Geschäft mit der Holzkohle begann er im Haus seiner Mutter die Hülsen zu trocknen und mit einer Maschine zu Mehl zu verarbeiten. «Die Nachbarn dachten, nun ist der Kerl endgültig übergeschnappt», sagt Guuleed Ahmad rückblickend. Zu dritt brachten sie es auf eine halbe Tonne am Tag, umgerechnet 20 Säcke. Die Nachfrage war bald da.
Das Mehl der Prosopis ist ausgesprochen protein- und zuckerhaltig. Wird es zu einem Anteil von 25 Prozent dem Weizen beigemischt, lässt sich damit hochwertiges Brot backen, was Guuleed Ahmad in einer Bäckerei in Darasalam unweit von Hargeisa selber ausprobierte. Sein eigentlicher Antrieb aber ist das Tierfutter, das sich aus Prosopismehl herstellen lässt. «Somaliland lebt von der Viehwirtschaft. Haben unsere Tiere nichts zu essen, sterben auch wir. Die Prosopis kann uns retten. So einfach ist das.»
Inzwischen gibt es einige Bemühungen in diese Richtung, sie werden von NGOs wie Vétérinaires Sans Frontières oder Welthungerhilfe angestossen. Dazu gehört, als relativ neues Projekt, die Gewinnung von Heu aus Prosopisblättern, ein Produkt, das sich ohne grosse Investitionen und maschinellen Aufwand herstellen lässt sowie lange haltbar ist.
Der Fokus liegt aber auf dem Prosopismehl. Feldstudien haben gezeigt, dass Tiere, die damit gefüttert werden, schon innert einem Monat über zehn Kilogramm an Gewicht zunehmen, auch ihre Milchproduktion steigt signifikant an. Für Thomas Hoerz von der Welthungerhilfe hat das weitreichende Folgen. «Die Viehwirtschaft ist Somalilands höchstes Exportgut. Können die Tiere mit Prosopis ernährt werden, bietet das dem ganzen Land eine wichtige Existenzgrundlage und macht es in Zeiten von Krisen und Kriegen weniger abhängig, wie die Ukraine jetzt zeigt.» Die Vorteile der Prosopis würden auf der Hand liegen: «Sie ist günstig, lokal und wächst, soweit das Auge reicht.»
140 Kilometer und sechs Fahrstunden östlich von Hargeisa in der Togdheer Region unweit der Stadt Odweyne, schreitet Abdirahman Ahmed über sein ausgetrocknetes Feld, er scheucht die Fliegen aus dem Gesicht, bleibt stehen, zeigt auf ein totes Schaf vor seinen Füssen, der Körper ein abgenagtes Skelett, dann deutet er in die Ferne, «geed jinni», sagt Abdirahman Ahmed immer wieder, der böse Baum.
Auf dem Feld steht eine Prosopis, gross und grün, der einzige Baum weit und breit.
«Er wächst auch dann noch, wenn alles andere schon tot ist, und richtet doch nur Schaden an», sagt Abdirahman Ahmed. Seine Tiere würden krank, wenn sie von den bitteren Blättern essen, wegen des Zuckers der reifen Schoten fielen ihnen alle Zähne aus, die Dornen des Baums durchbohrten ihre Hufe oder blieben im Magen stecken, wenn sie an den Ästen äsen, qualvoll gestorben seien schon viele seiner Schafe und Ziegen. Das Schlimmste aber sei die Gier der Prosopis, sagt Abdirahman Ahmed. «Sie nimmt uns alles Wasser, verdrängt jedes Gras und jeden Strauch.»
Woche um Woche magern die Tiere von Abdirahman Ahmed jetzt schon ab, ein paar Dutzend sind es noch, sie sind alles, was er hat. Schon bald wird er sie auf den Märkten in den umliegenden Dörfern oder in Hargeisa unter Wert nach Dubai verkaufen müssen – wissend, dass die dortigen Händler sie hochmästen und um ein Vielfaches verhökern werden.
Der 35-Jährige Vater von drei Kindern, dessen Familie schon seit Generationen als Nomaden in der Togdheer Region lebt, sieht kaum noch Perspektiven. Vielleicht wird er noch diesen Herbst, wie vor ihm schon viele Hirten, seine Zelte endgültig abbrechen und in die grossen Städte ziehen müssen, um nach Arbeit zu suchen.
Dass die Prosopis ein schlimmes Übel sei, diese Meinung teilen viele Viehhirten, die immerhin die Hälfte der 4,8 Millionen Einwohner von Somaliland ausmachen. Studien aus der nahegelegenen Afar Region in Äthiopien, wo die Prosopis innerhalb von 35 Jahren 1,2 Millionen Hektar Land befallen hat, haben gezeigt, dass 84 Prozent der Viehhirten den Baum als schädlich erachten.
Für Nick Pasiecznik, Umweltwissenschaftler an der Universität Lyon und einer der weltweit führenden Prosopis-Experten, ist das nicht erstaunlich. «Da es sich um eine vergleichsweise neue und invasive Art handelt, fehlt es an überliefertem Wissen, wie die Pflanze genutzt werden kann. Das Misstrauen ist gross, es zu überwinden braucht Zeit.»
2016 startete das Pastoral and Environmental Network in the Horn of Africa (PENHA), für das auch Pasiecznik arbeitet, mit Unterstützung der FAO in der Togdheer Region ein Pionierprojekt, das die Viehhirten für das ökonomische Potenzial der Prosopis sensibilisieren sollte. Doch der gute Wille allein reicht nicht aus. Um die Prosopis gewinnbringend zu nutzen, braucht es Äxte und Motorsägen für das Schneiden der harten Stämme, Öfen für die Holzhohle, Hammermühlen fürs Mahlen der Schoten, Lastwagen für den Transport der Säcke. Investitionen gerade von privater Seite blieben bisher im grossen Stil noch aus.
Die Verarbeitung der Prosopis zu Mehl wird immer wieder als Beispiel genannt, wie die gezielte Nutzung der Pflanze dazu beitragen kann, dass sie sich weniger ausbreitet. Untersuchungen haben nämlich ergeben, dass mit einem Sack à 25 Kilogramm Prosopismehl bis zu 50 000 Samen zerstört werden; hochgerechnet auf eine Tonne Mehl sind das zwei Millionen Sträuche, die nicht zu einem Dickicht auswuchern werden.
Ob die Prosopis durch Nutzung nachhaltig reguliert werden kann, ist allerdings umstritten. Urs Schaffner vom Centre for Agriculture and Bioscience International (CABI) mit Sitz in der Schweiz ist auf invasive Arten spezialisiert und hat selber Studien zur Prosopis durchgeführt. «Es gibt bisher keine wissenschaftlich fundierte Studie, die zeigt, dass Nutzung effektiv eine Kontrolle der Prosopis zur Folge hat.» So lasse sich die Ausbreitung der Prosopis nur dann vermindern, wenn flächendeckend über 90 Prozent der Samen eingesammelt oder zerstört werden; das sei bisher aber nirgendwo der Fall gewesen, so Schaffner.
Grundsätzlich müsse man unterscheiden, zwischen dem ökonomischen Begriff des Nutzens und dem ökologischen Konzept der Kontrolle. Im Falle der Prosopis stehe jedoch der Nutzen oft im Konflikt mit der Kontrolle. Als Beispiel nennt Schaffner das Abschneiden der Äste. Das führe zum Wiederaustrieb der Wurzelstöcke und zu weiterer Verbuschung, da auf diese Weise weniger dicke, dafür aber mehr Stämme austreiben würden. «Mit anderen Worten verdichtet die Nutzung die bestehenden Bestände und vergrössert damit das Problem.»
Für Schaffner braucht es einen integrativen Ansatz: Nebst der umsichtigen Nutzung müsse die Prosopis mit chemischen, biologischen und maschinellen Methoden bekämpft werden – letztere umfasst die Entfernung der Bäume samt Wurzelwerk –, zudem sei die Wiederaufforstung von zentraler Bedeutung.
Ein Beispiel für die Wiederaufforstung ist der zwölf Quadratkilometer grosse Nationalpark Ga’an Libah, ein Gebirgszug in der Maroodi Jeex Region östlich von Hargeisa. Galan Ahmed Hussein führt durch das Gelände, eine Art grüne Insel umgeben von Feldern ausserhalb des Parks, auf denen vor ein paar Jahren noch Gemüse angepflanzt wurde und die nun verdorren.
Gemeinsam mit der lokalen Organisation Candlelight werden in einer Gärtnerei heimische Sträuche und Bäume gezogen, darunter einst am Horn von Afrika weit verbreitete, resistente, immergrüne und schnellwüchsige Bäume wie die Knopfmangrove (Conocarpus lancifolius) oder Schirmakazie (Vachellia tortilis). «Wir versuchen hier im Kleinen, was wir uns für Somaliland im Grossen wünschen: den Boden schaffen für eine vielfältige, nachhaltige und fruchtbare Landwirtschaft», sagt Galan Ahmed Hussein.
Der Aufwand ist beachtlich, die Gefahr der Prosopis lauert auch hier. Eigens angestellte Viehhirten versuchen vorbeiziehende Herden davon abzuhalten, in den Park einzudringen, bis heute eines der wenigen prosopisfreien Gebiete von Somaliland. Dabei genügt eine einzige Ziege, um die Samen der invasiven Pflanze über den Kot auch in Ga’an Libah zu verbreiten. Galan Ahmed Hussein weiss, früher oder später wird es passieren.
Ob Leute wie Galan Ahmed Hussein eher das Potenzial oder die Gefahr in der Prosopis sehen, wird darüber mitentscheiden, ob die Pflanze tatsächlich das Heilmittel gegen den Hunger oder doch eher die Landplage am Horn von Afrika bleibt. Für Guuleed ist klar: Hat sich der Nutzen der Prosopis einmal bezahlt gemacht, kann sich sein Land den Reichtümern am Strassenrand zuwenden.
Ein teuflisch guter Baum
Text und Fotos: Klaus Petrus, NZZ am Sonntag (16.07.2022)
In Somaliland werden Hunderttausende von einer Dürre vertrieben, die Region erlebt die schlimmste Hungersnot in vierzig Jahren. Doch einige Unternehmer und Forscher sind überzeugt: Eine invasive Pflanzenart namens Prosopis juliflora könnte die Bevölkerung retten – und das Horn von Afrika vom Hunger befreien.
Wenn Guuleed Ahmad mit seinem weissen Hybrid durch Somalilands Hauptstadt Hargeisa fährt, redet er gern von den Millionen Dollars, die hier überall herumliegen: am Strassenrand, entlang den Mauern, zwischen den Häusern und auf dem Markt, unter den Brücken und in den Innenhöfen der Restaurants. Millionen über Millionen, um die sich angeblich niemand schert.
Dabei geht es dem 38-jährigen Somaliländer, der seine Jugend in Deutschland verbrachte, eigentlich gar nicht ums Geld. Er will mehr. Der Mann will sein Land retten, vor Armut und vor Hunger. Und er kennt die Lösung, die irgendwie kompliziert klingt, aber angeblich ganz einfach ist: Prosopis juliflora.
Der lateinische Name steht für ein tropisches Mimosengewächs, auch Mesquite genannt, das ursprünglich aus Mexiko, Mittelamerika und dem nördlichen Südamerika stammt. Der holzige, mit Dornen besetzte Strauch wächst rasch zu einem stattlichen Baum von über einem Meter Durchmesser und bis zu zwölf Metern Höhe heran. Seine Blätter sind immergrün und gefiedert, die Schoten enthalten bis dreissig Samen – ein ausgereifter Baum kann im Jahr über eine halbe Million davon produzieren.
Weil sich die schnellwachsenden Wurzeln fünfzig und mehr Meter in die Tiefe graben, kommt der Baum auch in unwirtlichen Gebieten und während Dürrezeiten noch zu Grundwasser, während andere Pflanzen längst verdorren.
Derart anspruchslos und dürreresistent, wurde die Prosopis ganz bewusst auch in anderen Teilen der Welt angepflanzt, so vor allem in Trockengebieten, die 40 Prozent der Erdoberfläche ausmachen. In Somaliland tauchte sie zuerst in den 1950er- Jahren auf und dann vor allem während der Hungerkatastrophe am Horn von Afrika Mitte der 1980er-Jahre. Der neue Baum, von den Einheimischen Granwaa – der Unbekannte – genannt, sollte Schatten spenden, Wüstenwinde brechen, Versteppung und Erosion aufhalten, Brennholz liefern, vor allem aber: Schafe, Ziegen und Kamele ernähren.
Inzwischen herrscht schon wieder Dürre in diesem Land, das sich 1991 nach einem blutigen Bürgerkrieg und dem Sturz des Diktators Siad Barre vom übrigen Somalia abspaltete, bis heute aber von der internationalen Gemeinschaft nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird. Im globalen Hungerindex steht Somaliland zusammen mit Somalia ganz zuoberst, sieben Millionen Menschen – das ist fast die Hälfte der Bevölkerung in dieser Region – sind akut von Hunger betroffen.
Kommt hinzu, dass Somaliland 90 Prozent seines Weizens per Schiff aus der Ukraine bezieht. Nach Ausbruch des Krieges im Februar und der Schliessung des Hafens in Odessa wurde die Einfuhr gestoppt, die Preise auf den übrigen Weizen schnellten in die Höhe, viele Viehhirten können sich das daraus gewonnene Tierfutter nicht mehr leisten.
Wird die Prosopis juliflora für die Menschen am Horn von Afrika erneut zur Hoffnung?
Anders als vor vierzig Jahren ist die Pflanze inzwischen aber zur Bürde geworden. Weil die Tiere die Samen nicht verdauen können und mit dem Kot ausscheiden, hat sich die invasive Pflanze unkontrolliert und in rasantem Tempo ausgebreitet, sie überwuchert Weideflächen, saugt Wasser ab, verdrängt einheimische Arten. Allein in Somaliland nimmt die Prosopis nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO inzwischen 550 000 Hektare Land ein, der jährliche Zuwachs an Fläche liegt zwischen fünf und fünfzehn Prozent. Die Pflanze taucht in der Liste der 100 weltweit gefährlichsten invasiven Arten auf, und seit 2019 ist es verboten, sie nach Europa zu importieren oder im EU-Raum zu kultivieren.
Wo andere eine Plage befürchten, sieht Guuleed Ahmad das Potenzial der Prosopis. Als er 2017 aus Deutschland nach Somaliland zurückkehrte, traf er auf Thomas Hoerz, Agraringenieur bei der Welthungerhilfe, der schon in den 1990ern in Kenia mit der Prosopis in Kontakt kam und seither immer wieder Projekte anregte. Damals gab es einiges an Forschung über den Nutzen der Pflanze, aber kaum jemand, der das in die Praxis umsetzte.
Guuleed Ahmad packte die Chance, er verkaufte sein Auto und investierte das Geld in die Gründung der Firma «LanderProsopis». Ausserhalb von Hargeisa mietete er sich ein Grundstück, importierte einen speziellen Ofen, der das Holz nicht verbrennt, sondern nur erhitzt, hackte Prosopisbäume und machte Holzkohle daraus. Unterstützung bekam er vom Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) zur Förderung junger Unternehmer. Bis heute beliefert er mit seiner Prosopiskohle Restaurants, er verkauft den Sack à 25 Kilogramm zu 14 Dollar. «Das ist unter dem üblichen Marktpreis. Zudem glüht Prosopiskohle länger als die Kohle von anderen Bäumen, man braucht also weniger Holz.» Guuleed Ahmad ist überzeugt, die Sache wird rentieren. «Holzkohle ist der wichtigste Brennstoff im ganzen Land.»
Das eigentlich Wundersame der Prosopis aber sieht Guuleed Ahmad, der seinen eigenen Ideen und Projekten immer schon einen Schritt voraus ist, in ihren reifen, gelben, zu einem Halbmond gerundeten, zwanzig Zentimeter langen Schoten. Neben seinem Geschäft mit der Holzkohle begann er im Haus seiner Mutter die Hülsen zu trocknen und mit einer Maschine zu Mehl zu verarbeiten. «Die Nachbarn dachten, nun ist der Kerl endgültig übergeschnappt», sagt Guuleed Ahmad rückblickend. Zu dritt brachten sie es auf eine halbe Tonne am Tag, umgerechnet 20 Säcke. Die Nachfrage war bald da.
Das Mehl der Prosopis ist ausgesprochen protein- und zuckerhaltig. Wird es zu einem Anteil von 25 Prozent dem Weizen beigemischt, lässt sich damit hochwertiges Brot backen, was Guuleed Ahmad in einer Bäckerei in Darasalam unweit von Hargeisa selber ausprobierte. Sein eigentlicher Antrieb aber ist das Tierfutter, das sich aus Prosopismehl herstellen lässt. «Somaliland lebt von der Viehwirtschaft. Haben unsere Tiere nichts zu essen, sterben auch wir. Die Prosopis kann uns retten. So einfach ist das.»
Inzwischen gibt es einige Bemühungen in diese Richtung, sie werden von NGOs wie Vétérinaires Sans Frontières oder Welthungerhilfe angestossen. Dazu gehört, als relativ neues Projekt, die Gewinnung von Heu aus Prosopisblättern, ein Produkt, das sich ohne grosse Investitionen und maschinellen Aufwand herstellen lässt sowie lange haltbar ist.
Der Fokus liegt aber auf dem Prosopismehl. Feldstudien haben gezeigt, dass Tiere, die damit gefüttert werden, schon innert einem Monat über zehn Kilogramm an Gewicht zunehmen, auch ihre Milchproduktion steigt signifikant an. Für Thomas Hoerz von der Welthungerhilfe hat das weitreichende Folgen. «Die Viehwirtschaft ist Somalilands höchstes Exportgut. Können die Tiere mit Prosopis ernährt werden, bietet das dem ganzen Land eine wichtige Existenzgrundlage und macht es in Zeiten von Krisen und Kriegen weniger abhängig, wie die Ukraine jetzt zeigt.» Die Vorteile der Prosopis würden auf der Hand liegen: «Sie ist günstig, lokal und wächst, soweit das Auge reicht.»
140 Kilometer und sechs Fahrstunden östlich von Hargeisa in der Togdheer Region unweit der Stadt Odweyne, schreitet Abdirahman Ahmed über sein ausgetrocknetes Feld, er scheucht die Fliegen aus dem Gesicht, bleibt stehen, zeigt auf ein totes Schaf vor seinen Füssen, der Körper ein abgenagtes Skelett, dann deutet er in die Ferne, «geed jinni», sagt Abdirahman Ahmed immer wieder, der böse Baum.
Auf dem Feld steht eine Prosopis, gross und grün, der einzige Baum weit und breit.
«Er wächst auch dann noch, wenn alles andere schon tot ist, und richtet doch nur Schaden an», sagt Abdirahman Ahmed. Seine Tiere würden krank, wenn sie von den bitteren Blättern essen, wegen des Zuckers der reifen Schoten fielen ihnen alle Zähne aus, die Dornen des Baums durchbohrten ihre Hufe oder blieben im Magen stecken, wenn sie an den Ästen äsen, qualvoll gestorben seien schon viele seiner Schafe und Ziegen. Das Schlimmste aber sei die Gier der Prosopis, sagt Abdirahman Ahmed. «Sie nimmt uns alles Wasser, verdrängt jedes Gras und jeden Strauch.»
Woche um Woche magern die Tiere von Abdirahman Ahmed jetzt schon ab, ein paar Dutzend sind es noch, sie sind alles, was er hat. Schon bald wird er sie auf den Märkten in den umliegenden Dörfern oder in Hargeisa unter Wert nach Dubai verkaufen müssen – wissend, dass die dortigen Händler sie hochmästen und um ein Vielfaches verhökern werden.
Der 35-Jährige Vater von drei Kindern, dessen Familie schon seit Generationen als Nomaden in der Togdheer Region lebt, sieht kaum noch Perspektiven. Vielleicht wird er noch diesen Herbst, wie vor ihm schon viele Hirten, seine Zelte endgültig abbrechen und in die grossen Städte ziehen müssen, um nach Arbeit zu suchen.
Dass die Prosopis ein schlimmes Übel sei, diese Meinung teilen viele Viehhirten, die immerhin die Hälfte der 4,8 Millionen Einwohner von Somaliland ausmachen. Studien aus der nahegelegenen Afar Region in Äthiopien, wo die Prosopis innerhalb von 35 Jahren 1,2 Millionen Hektar Land befallen hat, haben gezeigt, dass 84 Prozent der Viehhirten den Baum als schädlich erachten.
Für Nick Pasiecznik, Umweltwissenschaftler an der Universität Lyon und einer der weltweit führenden Prosopis-Experten, ist das nicht erstaunlich. «Da es sich um eine vergleichsweise neue und invasive Art handelt, fehlt es an überliefertem Wissen, wie die Pflanze genutzt werden kann. Das Misstrauen ist gross, es zu überwinden braucht Zeit.»
2016 startete das Pastoral and Environmental Network in the Horn of Africa (PENHA), für das auch Pasiecznik arbeitet, mit Unterstützung der FAO in der Togdheer Region ein Pionierprojekt, das die Viehhirten für das ökonomische Potenzial der Prosopis sensibilisieren sollte. Doch der gute Wille allein reicht nicht aus. Um die Prosopis gewinnbringend zu nutzen, braucht es Äxte und Motorsägen für das Schneiden der harten Stämme, Öfen für die Holzhohle, Hammermühlen fürs Mahlen der Schoten, Lastwagen für den Transport der Säcke. Investitionen gerade von privater Seite blieben bisher im grossen Stil noch aus.
Die Verarbeitung der Prosopis zu Mehl wird immer wieder als Beispiel genannt, wie die gezielte Nutzung der Pflanze dazu beitragen kann, dass sie sich weniger ausbreitet. Untersuchungen haben nämlich ergeben, dass mit einem Sack à 25 Kilogramm Prosopismehl bis zu 50 000 Samen zerstört werden; hochgerechnet auf eine Tonne Mehl sind das zwei Millionen Sträuche, die nicht zu einem Dickicht auswuchern werden.
Ob die Prosopis durch Nutzung nachhaltig reguliert werden kann, ist allerdings umstritten. Urs Schaffner vom Centre for Agriculture and Bioscience International (CABI) mit Sitz in der Schweiz ist auf invasive Arten spezialisiert und hat selber Studien zur Prosopis durchgeführt. «Es gibt bisher keine wissenschaftlich fundierte Studie, die zeigt, dass Nutzung effektiv eine Kontrolle der Prosopis zur Folge hat.» So lasse sich die Ausbreitung der Prosopis nur dann vermindern, wenn flächendeckend über 90 Prozent der Samen eingesammelt oder zerstört werden; das sei bisher aber nirgendwo der Fall gewesen, so Schaffner.
Grundsätzlich müsse man unterscheiden, zwischen dem ökonomischen Begriff des Nutzens und dem ökologischen Konzept der Kontrolle. Im Falle der Prosopis stehe jedoch der Nutzen oft im Konflikt mit der Kontrolle. Als Beispiel nennt Schaffner das Abschneiden der Äste. Das führe zum Wiederaustrieb der Wurzelstöcke und zu weiterer Verbuschung, da auf diese Weise weniger dicke, dafür aber mehr Stämme austreiben würden. «Mit anderen Worten verdichtet die Nutzung die bestehenden Bestände und vergrössert damit das Problem.»
Für Schaffner braucht es einen integrativen Ansatz: Nebst der umsichtigen Nutzung müsse die Prosopis mit chemischen, biologischen und maschinellen Methoden bekämpft werden – letztere umfasst die Entfernung der Bäume samt Wurzelwerk –, zudem sei die Wiederaufforstung von zentraler Bedeutung.
Ein Beispiel für die Wiederaufforstung ist der zwölf Quadratkilometer grosse Nationalpark Ga’an Libah, ein Gebirgszug in der Maroodi Jeex Region östlich von Hargeisa. Galan Ahmed Hussein führt durch das Gelände, eine Art grüne Insel umgeben von Feldern ausserhalb des Parks, auf denen vor ein paar Jahren noch Gemüse angepflanzt wurde und die nun verdorren.
Gemeinsam mit der lokalen Organisation Candlelight werden in einer Gärtnerei heimische Sträuche und Bäume gezogen, darunter einst am Horn von Afrika weit verbreitete, resistente, immergrüne und schnellwüchsige Bäume wie die Knopfmangrove (Conocarpus lancifolius) oder Schirmakazie (Vachellia tortilis). «Wir versuchen hier im Kleinen, was wir uns für Somaliland im Grossen wünschen: den Boden schaffen für eine vielfältige, nachhaltige und fruchtbare Landwirtschaft», sagt Galan Ahmed Hussein.
Der Aufwand ist beachtlich, die Gefahr der Prosopis lauert auch hier. Eigens angestellte Viehhirten versuchen vorbeiziehende Herden davon abzuhalten, in den Park einzudringen, bis heute eines der wenigen prosopisfreien Gebiete von Somaliland. Dabei genügt eine einzige Ziege, um die Samen der invasiven Pflanze über den Kot auch in Ga’an Libah zu verbreiten. Galan Ahmed Hussein weiss, früher oder später wird es passieren.
Ob Leute wie Galan Ahmed Hussein eher das Potenzial oder die Gefahr in der Prosopis sehen, wird darüber mitentscheiden, ob die Pflanze tatsächlich das Heilmittel gegen den Hunger oder doch eher die Landplage am Horn von Afrika bleibt. Für Guuleed ist klar: Hat sich der Nutzen der Prosopis einmal bezahlt gemacht, kann sich sein Land den Reichtümern am Strassenrand zuwenden.