Krieg im Kopf

Text und Fotos: Klaus Petrus, Bieler Tagblatt (12.02.22)

Tausende jesidische Frauen und Mädchen wurden 2014 von Islamisten verschleppt. Einige lokale Therapeut*innen versuchen in den Lagern im Nordirak das Leben derer neu zu gestalten, die entkommen konnten. Und gehen dabei ganz andere Wege als westliche Hilfsorganisationen.

«Die Männer sprachen die ganze Zeit von Regeln, und wer sie nicht befolgte, wurde bestraft.» Ala N. wurde vom IS verschleppt. Sie war damals 8 Jahre alt.

Und manchmal ist es bloss ein leises Geräusch. Wenn die Zeltplane im Wind auf und ab weht, zum Beispiel. Dann schleichen sich Bilder von Fahnen in ihren Kopf, von schwarzen, flatternden Fahnen, und dieses Flattern wird immer schneller, lauter und härter, als wären es Schläge auf den Rücken oder in ein Gesicht, jemand schreit, keucht, erst ein Mädchen, dann Männer, die sich auf sie setzen, einer nach dem anderen, und eigentlich ist es dunkel vor ihren Augen und doch kann sie alles sehen, und bis dieses Flattern der Fahnen in ihrem Kopf endlich aufhört, geht es manchmal ein paar Minuten oder aber die halbe Nacht.

So erzählt es Ala N. ihrem Therapeuten Bewar Safar Ali, und sie sagt auch: «Die Männer sprachen die ganze Zeit von Regeln, und wer sie nicht befolgte, wurde bestraft. Beim ersten Mal gab es fünf Peitschenhiebe, beim zweiten Mal zehn, und wer eine Regel dreimal brach, dem wurde ins Schienbein geschossen. Ich vergass einmal, mir den Schleier umzubinden, da wurde ich bloss ermahnt. Ein andermal ass ich mit der linken Hand, da kam ein Mann, stellte mich vor allen anderen an eine Mauer und trat mir ein paar Mal in den Bauch. Ich schämte mich so sehr.»

Das war im Herbst 2014, und Ala, die Jesidin, gerade einmal acht Jahre alt. Damals brach die «Schwarze Macht», wie die Männer des sogenannten Islamischen Staates IS genannt wurden, über ihr Tal herein. Nachdem sie die irakische Grossstadt Mosul eroberten, zog Daesh am 3. August 2014 nordwärts nach Sindschar, wo eine halbe Million Jesiden lebten – in den Augen der Islamisten Ungläubige und Teufelsanbeter:innen. Wie Schafe trieben sie die Menschen auf dem grossen Marktplatz zusammen, sie trennten Familien, verschleppten Frauen, massakrierten Männer – 10 000 waren es an der Zahl. Andere konnten in die umliegenden Berge fliehen, wo sie dann vom IS eingekesselt wurden.

In Schutt und Asche gelegt: Sindschar, Zentrum der jesidischen Gemeinschaft im Nordirak.

Auch Ala geriet an diesem Tag in die Hände der Islamisten. «Schon am nächsten Morgen wurde ich in ein Dorf zu einem Mann gebracht, für den ich putzen und kochen musste», erzählt Ala. Wieso er mit ihr unzufrieden war, sie schlug und demütigte, das begriff das kleine Mädchen nicht. Bald darauf wurde sie an jemand anderen verkauft, über den Ala bis heute nicht redet, auch nicht mit Bewar Safar Ali. Dort blieb sie mit zwei anderen Mädchen, bis ihnen, zufällig, die Flucht über die Berge gelang und sie von US-Einheiten in Sicherheit gebracht wurden.

Inzwischen ist die 16-Jährige in einem Camp im Norden Iraks. Ihre Mutter hat sie nie wiedergesehen, vom Vater weiss sie, dass er erschossen wurde – im Kampf gegen den IS. Ihre beiden Brüder? Die Freund:innen aus dem Dorf? Sie weiss es nicht.

Bis heute leben in den riesigen Flüchtlingslagern im Nordirak rund um die mehrheitlich kurdische Stadt Duhok an die 300 000 Jesid:innen. An eine Rückkehr denken die wenigsten. Obschon inzwischen von Daesh befreit, liegen weite Teile des Sindschar-Tals in Trümmern. Der Wiederaufbau stockt, die irakische Regierung in Bagdad streitet sich mit der autonomen Region Kurdistan um die Hoheit. Hinzu kommen Angst und Misstrauen. Arabische Nachbarn der Jesid:innen schlossen sich damals dem IS an, aus Freund wurde Feind. Auch wenn die Terroristen weg sind, in den Köpfen der Mehrheit der Muslime sei Daesh geblieben, denken viele Jesid:innen. Sie fühlen sich bis heute im Stich gelassen – von der irakischen Regierung, der internationalen Gemeinschaft.

Ort der Geborgenheit: In Lalish, der religiösen Mitte der Jesid:innen, wurden die vom IS verschleppten und geschändeten Frauen aufgenommen.

Dieses Gefühl ist tief verankert. Und nirgends so gegenwärtig wie in Lalish, dem Tempeltal und religiösen Zentrum oberhalb der Stadt Shekhan im Nordosten der Provinz Ninive. Schon vor Jahren hatte der inzwischen verstorbene Baba Sheikh Xurto Hecî Îsmaîl, das geistliche Oberhaupt der Jesid:innen, verkündet, die von Daesh geschändeten und zwangsverheiraten Mädchen und Frauen hätten von ihren Familien nichts zu befürchten. Ein ungewöhnliches Verdikt, hatte man doch Frauen, die von nicht-jesidischen Männern berührt wurden, bisher verstossen. Stattdessen ordnete der Baba Sheikh für die Opfer des IS in Lalish eine Zeremonie an, durch die sie erneut in die Gemeinschaft aufgenommen wurden.

Zwar ist das Flüchtlingslager, wo Ala heute lebt, gut ausgestattet; es mangelte schon in der Zeit kurz nach dem Völkermord an den Jesiden nicht an Hilfsorganisationen, die in den Camps für die Grundversorgung verantwortlich sind – für sanitäre Anlagen etwa oder wetterfeste Zelte.

«Doch ein Dach, fliessend Wasser und Essen sind nicht genug, um die Schrecken und das Grauen aus dem Kopf zu vertreiben», sagt Therapeut Bewar Safar Ali. Der 38-Jährige weiss, wovon er redet. Auch er ist Jesidi, wohnte mit seiner Familie in einem Dorf unweit von Mosul und ergriff in jenem August 2014 ebenfalls die Flucht. Später begann der ausgebildete Psychologe bei «Lotus Flower» zu arbeiten.

Aufgehoben, ja – angekommen, noch lange nicht. Im Norden Iraks finden Jesid:innen vorübergehend Schutz – und doch erinnert noch vieles an den Völkermord.

Die Organisation aus Therapeut:innen sowie Sozialarbeiter:innen zählt nur wenige Mitarbeitende; aber alle stammen aus der Region, die meisten sind selber Jesid*innen, sie reden die Sprache der Menschen, mit denen sie therapeutisch arbeiten, kennen deren Kultur und Religion und wissen oft aus eigener Erfahrung, was dies bedeutet: Krieg und Vertreibung.

Für Bewar Safar Ali ist diese Nähe zu den Betroffenen eine unabdingbare Voraussetzung seiner Arbeit. «Viele Traumata haben Ursachen, über die zu reden aufgrund sozialer oder kultureller Normen fast unmöglich ist. Vergewaltigungen zum Beispiel. Deshalb sollten wir den gesamten Menschen in den Blick nehmen: nicht nur seine Psyche, sondern auch sein soziales Umfeld.»

Bevor Safar Ali und sein Team mit Betroffenen Therapiesitzungen abhalten, gehen sie zu ihnen in die Zelte; sie machen Hausbesuche, reden mit Familie, Freunden und Bekannten. Auch bauen sie soziale Räume auf wie eine Bäckerei oder einen Fitnessraum, wo die Betroffenen zusätzlich mit anderen Leuten in Kontakt kommen und sich austauschen können.

Sie möchten so sicherstellen, dass eine traumatisierte Person für eine Einzeltherapie nicht zu früh aus ihrem gewohnten Umfeld herausgenommen und zusätzlich als Opfer stigmatisiert wird. Letztlich besteht das Ziel dieser Treffen darin, einen verlässlichen und den Umständen entsprechend «normalen» sozialen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich die Geflüchteten einigermassen sicher fühlen können.

Dem Leben von Traumatisierten eine neue Gestalt geben, das sei das Ziel aller Therapie, so Bewar Safar Ali. Leicht gesagt, der Weg dahin ist steinig – und manchmal vergebens.

Dieser Zugang, so Safar Ali, unterscheide sich stark von traditionellen Auffassungen von Traumaarbeit, die eher das Individuum ins Zentrum stellen und weniger die Gemeinschaft und ausserdem mehr auf das Innenleben fokussieren als auf das soziale Umfeld.

Dagegen verfolgt Safar Ali, der nicht nur Therapeut ist, sondern auch eine Ausbildung zum Sozialarbeiter absolvierte, mit seinem Team einen «bi-fokalen Ansatz»: Sowohl das Umfeld einer Person soll berücksichtigt werden als auch deren Psyche, die strikte Trennung zwischen Innen- und Aussenleben mag Safar Ali so nicht einleuchten.

Der Unterschied zu herkömmlichen Therapieformen sieht er vor allem in der Herangehensweise. Für ihn sind Psychotherapie und Sozialarbeit keine gesonderten Felder, sondern sind eng aufeinander bezogen und sollten im Grunde immer zusammen gedacht werden. Gerade bei schwer traumatisierten Personen müsse man bei der sozialen Einbettung ansetzen, so Safar Ali. Erst brauche es im Aussen Stabilität und Sicherheit, anschliessend könne man sich innerpsychischen Problemen widmen.

Auch zu Ala musste Safar Ali in kleinen Schritten Vertrauen aufbauen. Da sie keine Familie mehr hat, war sie anfänglich in einer Gruppe fast gleichaltriger Mädchen, die Ähnliches durchlebt haben wie sie. Für Ala war dies eine wichtige Erfahrung, sie hatte damals begonnen, überhaupt über ihre Erlebnisse zu reden. Für Safar Ali keine Überraschung: «Wir erleben es immer wieder, dass sozial erzwungenes Schweigen und Tabuisieren eher in Gruppen von Menschen aufgehoben werden können, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.» Was nichts daran ändere, dass am Ende jeder, der ein schweres Trauma mit sich trägt, alleine bleibe.

In kleinen Schritten sich dem nähern, was passiert ist und dass Leben in ein Früher und ein Später teilt: Ala N. sieht einem Therapeuten zu, wie er mit einem jesidischen Jungen malt.

Schweigen, Scham und Entfremdung seien im Grunde alles normale Reaktionen auf das Unfassbare, das Mädchen wie Ala N. erleben mussten. «Der Kern des Traumas besteht in der Schwierigkeit, das Erlebte für sich selbst fassbar zu machen, es neu zu sortieren», sagt Safar Ali. Was früher war – alles Leben vor dem Trauma –, sei plötzlich nicht mehr da, und was jetzt ist, fühle sich sinnlos an. Darin sieht er seine wichtigste Aufgabe, wenn er – meist in einem zweiten oder erst dritten Schritt – mit Einzeltherapien beginnt: das Erlebte in eine Geschichte einbetten, die wieder Sinn macht.

An diesem Punkt steht Ala; seit ein paar Monaten ist sie in Einzeltherapie, für sie ein grosser Schritt. «Nun wird sich zeigen, ob ich ein normales Leben führen kann.» Ein Weg dorthin führt über die «Linien des Lebens», ein therapeutisches Verfahren, das in Krisengebieten oft eingesetzt wird. «Die traumatisierte Person legt ein Seil auf dem Boden aus, es steht für ihre Lebenslinie. Für schlimme Ereignisse nimmt sie einen Stein und legt ihn auf das Seil, für schöne Erlebnisse und Erinnerungen platziert sie eine Blume», erklärt Bewar Safar Ali.

«Nun wird sich zeigen, ob ich ein normales Leben führen kann.» Ala N. legt mit zusammen mit dem Therapeuten Bewar Safar Ali ihre Lebenslinie.

Mit Zetteln werden die so markierten Ereignisse benannt und in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Nicht allein das, was ein Mensch an Grauen erlebt, sei erschütternd. Sondern die Tatsache, dass dies das Leben unterbreche, es in ein Vorher und ein Nachher teile. Manchmal könne eine Lebenslinie aus Seil so wieder verbinden, was gewaltsam getrennt wurde. «Dem Leben eine neue Gestalt geben», nennt Safar Ali das.

Auch Ala hat schon in manchen Sitzungen dieses Seil auf dem Boden ausgebreitet. Anfänglich waren es vor allem Steine, die sie entlang der Linie hinlegte, hier und da waren es auch Rosen. Inzwischen werden es mehr davon. Denn da sind nicht nur diese Bilder von den schweren Händen ihres Peinigers, die sich auf ihren Körper legten, die Schüsse, Schreie, das Blut und die Angst, die sie noch immer erzittern lässt, und all die düsteren Träume.

Es sind da auch Erinnerungen an die wohlige Kälte am frühen Morgen, wenn der Winter ins Sindschar-Tal einzog, an den Geruch der Ziegen, den Singsang ihrer Mutter, während sie das Essen zubereitete, an ihre Lieblingspuppe, die ein leuchtend blaues Kleidchen trug oder an das schelmische Grinsen ihres älteren Bruders, der die ganze Zeit nur nervte und der ihr das Allerliebste war auf dieser Welt.