Brief an die Mutter
Text und Fotos: Klaus Petrus, Frankfurter Rundschau (22.09.23)
Der palästinensische Junge Omar Khaled Lutfi al-Khmour, 14, trägt einen Brief an seine Mutter mit sich, Worte des Abschieds, für den Fall, dass er zum Märtyrer wird. Es gibt viele solcher Briefe, die die Kämpfe in Nahost von einer ganz anderen Seite zeigen. Manche bleiben ungelesen, manche nicht.
Vielleicht lag er ohnehin wach, hatte trübe Gedanken oder konnte einfach nicht von seinem Smartphone lassen. Vielleicht aber schreckte er aus dem Schlaf, als das israelische Militär (es muss gegen vier Uhr morgens gewesen sein) mit gepanzerten Jeeps ins Flüchtlingslager Dheisheh südlich von Bethlehem eindrang und das Feuer eröffnete, und er und seine Freunde rannten auf die Strasse, stellten sich den Soldaten in den Weg und warfen Steine und Flaschen gegen die Fahrzeuge. Oder es war ganz anders, und er hatte mit alldem nichts zu tun, er ging aus Neugier vor die Tür, weil Simsim, sein Hund, ihn weckte, und kam einfach zwischen die Fronten einer Handvoll bewaffneter Palästinenser und israelischer Streitkräfte.
Obschon das wohl eher nicht. Denn in seiner Hosentasche fand man diesen Brief, gefaltet und zerfranst.
Tatsache ist: Omar Khaled Lutfi al-Khmour, 14 Jahre alt, wurde am Morgen des 16. Januar 2023, um 6 Uhr 40 und 150 Meter von seinem Elternhaus im Flüchtlingslager Dheisheh entfernt, durch einen Schuss eines israelischen Scharfschützen in den Kopf getroffen und erlag noch am selben Nachmittag in einem Spital in Beit Jala in der Nähe von Bethlehem seinen Verletzungen. Dass Omar im Zuge dieser militärischen Operation erschossen wurde, liess zuerst das palästinensische Gesundheitsministerium vermelden, später wurde die Nachricht vom israelischen Verteidigungsministerium bestätigt; letzteres rechtfertigte den Einsatz damit, gegen eine «terroristische Infrastruktur» im Flüchtlingslager Dheisheh vorzugehen.
Tags darauf, am 17. Januar, wurde der Junge, sein Name war da schon der eines Märtyrers, auf einer Bahre durch die Strassen getragen, Tausende liefen mit, skandierten Parolen und schwenkten Fahnen. In einem Video der Nachrichtenagentur Middle East Eye ist Omars engster Freund zu sehen, Jamal, und auch Samira, die Mutter, wie sie ihren Jungen auf die Wange küsst, bevor er begraben wird.
Tage später wird sie sagen: «Wir nannten ihn Baklava, wie das Gebäck. Weil er so süss war, so lieb, weil er sich immer sorgte um alle anderen. Er bewunderte seine Brüder, kaufte Zigaretten für meinen Mann, er brachte mir Gemüse vom Markt. Und nun bin ich allein.»
Vergib mir, Mutter, und weine nicht.
Diese letzte Zeile aus Omars Brief, den er wohl schon wochenlang vor seinem Tod bei sich trug – seine Mutter wusste nichts davon. Bittere, zornige, feierliche Worte des Abschieds sind es, für den Fall, dass die Israeli ihn töten und er zum Märtyrer werden würde. Jetzt hält die 48-jährige Samira das zerknitterte Blatt mit den Schriftzügen ihres Sohnes, der nichts mehr liebte als die Nähe zu seiner Mutter, in der Hand, sie schüttelt den Kopf und sagt: «Omar wollte nicht sterben, Omar wollte leben. Hätte ich ihn denn einsperren sollen? Es ist sowieso eine kleine Welt hier.»
Hier – im Flüchtlingslager Dheisheh bei Bethlehem, wo auf einem Drittel Quadratkilometer 15 000 Menschen leben, wo fast die Hälfte unter 15 Jahre ist und die Arbeitslosigkeit 40 Prozent beträgt. Wo die Gassen eng sind, die Häuser marode, die Hoffnungen zerknittert und die Wände zugeklebt mit Plakaten von Märtyrern, alles Männer, jung, hipp, glatte Haut, rassiger Haarschnitt, ein Lächeln im Gesicht. «Die Toten vor Augen, so wachsen unsere Kinder auf», sagt Samira, sie verwirft die Hände. Stolz war sie auf ihren Sohn, weil Omar keinen Tag in der Schule versäumte, weil er so fleissig war, zuverlässig und nicht fahrig wie seine Brüder, weil er was werden wollte, Ingenieur zum Beispiel. Sie dachte oft bei sich, vielleicht kommt der Bub ja eines Tages raus aus diesem Drecksloch.
«Aber ein Märtyrer?», fragt Samira. «Habe ich mich zu wenig gekümmert um ihn?»
Schon vor Monaten hatte er mit Omar deswegen Streit, erzählt Jamal, auch er 14 Jahre. «Lass den Unfug, du Narr, das bringt bloss Unglück», habe er gezischt, als dieser ihm vom Brief erzählte. Doch Omar erwiderte bloss: «Wir folgen den Märtyrern Palästinas.» Jamal wusste nicht, ob sein Freund, zu dem er stets aufschaute, bloss Witze machte oder wieder einmal einen seiner Vorträge hielt.
Zu jener Zeit tauchten immer mehr solche Briefe auf, kämpferisch diese, voller Angst und Verzweiflung jene, anklagend die anderen. Und das ist bis heute so.
An die Öffentlichkeit kommen sie erst, wenn die Teenager tot sind. Sie wussten von anderen, die ebenfalls solche Zeilen bei sich trugen und getötet wurden von den Israelis, auf den Sozialen Medien waren die Bilder der Briefe zu sehen und Videos von den Begräbnissen derer, die sie verfasst haben. Und irgendwann waren es ihre eigenen Briefe, die über TicToc verbreitet wurden und die den Anderen zu reden gaben, Omar und Jamal zum Beispiel. Natürlich hätten sie darüber nachgedacht, was zu tun sei, was getan werden müsse, sagt Jamal. Hätten einander geschworen, einfach nur dasitzen, wie alle anderen rundherum, die Brüder, die Väter, die Lehrer an der Schule, nein, nur das nicht.
Aber was sonst?
«Sie haben keine Hoffnung, haben nichts zu verlieren – und schon gar nichts zu gewinnen. Sie hören zweimal die Woche, dass einer von ihnen getötet wurde, sehen auf Facebook Videos, wie israelische Siedler palästinensische Bauern vertreiben, wie die Armee deren Häuser zerstört, wie Soldaten in Jerusalem auf betende Menschen einprügeln. Und sich nichts tut, kein Aufschrei, kein Protest, und von der eigenen Regierung nur leere Worte.»
Tahseen Elayyan, 50, arbeitet als Anwalt für die Menschenrechtsorganisation al-Haq, sie wurde im Oktober 2021 von der israelischen Regierung als terroristische Organisation eingestuft. «Diese Abschiedsbriefe», sagt Elayyan, «sind eine Botschaft an das eigene Volk: nicht aufzugeben, auch wenn der Kampf wieder einmal aussichtslos ist.» Darin würden sie den Schreiben der palästinensischen Kämpfer der Ersten Intifada Ende der 1980er-Jahre oder der Selbstmordattentäter der Zweiten Intifada 2000 bis 2005 ähneln, meint der Anwalt.
Aber er sieht auch Unterschiede. Viel komplexer seien die Schreiben der alten Märtyrer, im Duktus wie im Inhalt, bisweilen würden sie an Predigten erinnern. «Die Briefe der Kids dagegen sind persönlicher. Parteipolitische Parolen finden sich kaum, ebenso wenig Suren aus dem Koran. Und was auch anders ist: Sie kennen die Versäumnisse der älteren Generation, sie klagen an und fragen: Warum lasst ihr all das mit euch geschehen?»
Zu dem Zeitpunkt, da ein israelischer Soldat Omar Khaled Lutfi al-Khmour niederstreckte – es war Mitte Januar –, wurden seit Beginn des Jahres bereits 14 Palästinenser:innen getötet, darunter 4 Jugendliche; bis heute sind es fast 120, 44 davon Kinder. Zusammen mit den Toten des vorigen Jahres ist die Zahl auf fast 400 angestiegen, so viele wie seit Ende der Zweiten Intifada 2005 nicht mehr.
Seit dieser Nahost-Konflikt besteht – manche sagen ab der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948, andere datieren ihn auf den Sechstagekrieg im Juni 1967 –, werden Tote gezählt, hüben wie drüben. Daran wird gemessen, wie sehr der Konflikt einmal mehr am Eskalieren ist, oder darüber spekuliert, ob nun doch eine Dritte Intifada die Region erschüttern wird.
So auch in diesen Wochen und Monaten. Kaum war Omar unter der Erde, drang das israelische Militär in den Morgenstunden des 26. Januar ins Flüchtlingslager von Jenin ein, drei Stunden dauerte die Razzia, neun Tote, darunter zwei Zivilist:innen. Tags darauf erschoss ein 21-jähriger Palästinenser vor einer Synagoge in Ost-Jerusalem sieben israelische Zivilist:innen, woraufhin die Westbank in Aufruhr geriet: In allen grossen Städten, von Hebron über Ramallah bis Nablus, strömten Menschen auf die Strassen, sie schwenkten Fahnen und hielten Freudenfeiern ab. Anfang Juni wiederholte sich die Szenerie, und wiederum war es Jenin. Nur starteten die Israelis diesmal Angriffe aus der Luft – das gab es in der Westbank seit zwei Jahrzehnten nicht –, sie schickten 1000 Soldaten in die Stadt, liessen 300 Leute verhaften, angeblich alles «Terrorverdächtige», 12 wurden erschossen.
Die Toten, als Märtyrer verehrt, wurden noch am selben Tag durch die Strassen von Jenin getragen und auf dem Friedhof des Flüchtlingscamps am Stadtrand beigesetzt.
Dieses Jenin, Stadt mit 60 000 Einwohner:innen im Norden der Westbank, gilt den Israelis seit jeher als Hochburg des Terrors; während der Zweiten Intifada 2002 wurde der Ort dreizehn Tage ununterbrochen bombardiert. Was die Menschen dort nur noch enger zusammenschweisste. Bis heute ist Jenin, zusammen mit Nablus, das Symbol des palästinensischen Widerstands. Und wenn die israelischen Streitkräfte, wie in den vergangenen Monaten, ihre militärischen Operationen auf diese Städte konzentrieren, könne das, so heisst es auch in den Medien, nur eines bedeuten: dass der palästinensische Befreiungskampf, nach Jahren der Lethargie, sich aufs Neue entfacht.
Aber stimmt das auch?
«Es täuscht gewaltig», sagt Tahseen Elayyan von al-Haq. «Die Zahl der Toten, vor allem auf palästinensischer Seite, ist in den letzten zwei Jahren zwar angestiegen. Was aber mit einer Strategie der israelischen Armee zu tun hat, die sie schon während der Zweiten Intifada erfolgreich erprobte: Shoot to kill.» Bei Razzien werde häufiger und vor allem rascher geschossen, sagt Elayyan, vor sich eine Statistik der Getöteten auf beiden Seiten. «Mehr Tote gibt es nicht deswegen, weil der Widerstand wächst, sondern weil mehr Palästinenser:innen erschossen werden.» Und weil Israels neue Regierung mit Politikern wie Itamar Ben Gvir das alles zusätzlich befeuere, ist Elayyan überzeugt.
Tatsächlich stand Ben Gvir, seit Dezember 2022 Minister für Nationale Sicherheit, bereits mehr als fünfzig Mal wegen Anstiftung zu Gewalt und Hassrede vor Gericht. Von seiner Gesinnung zeugen Videos, in denen er mit Gleichgesinnten durch Ost-Jerusalem marschiert und «Tod den Arabern» skandiert. Oder wo er dazu auffordert, ohne Zögern auf palästinensische Steinewerfer:innen zu schiessen, einerlei, wie alt sie seien. Auch lobt er öffentlich israelische Soldaten, die Palästinenser:innen töten, er nennt sie «Helden Israels». Dazu passe, sagt Elayyan, dass die israelischen Behörden immer weniger Fälle von Tötungen durch die Armee untersuchten.
«Die Soldaten dürfen abdrücken, zu befürchten haben sie nichts. Es ist wieder einmal einfach geworden, Palästinenser:innen zu ermorden.» Elayyans Unterstellung wird sich schwerlich belegen lassen. Zwar lässt die Pressestelle der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) die Nachfrage, ob die Armee tatsächlich eine solche Shoot-to-kill-Strategie verfolge, unbeantwortet. Die Berichte über ihre vermehrten Einsätze in den vergangenen Monaten namentlich in Flüchtlingslagern der Westbank lassen indes keinen Zweifel offen, dass aus ihrer Sicht «terroristische Aktivitäten» auf palästinensischer Seite zunehmen; so jedenfalls rechtfertigt die Armee ihre Razzien.
Ähnlich sieht das Khaled Saleh, Sozialarbeiter in Dheisheh, wo Omar geboren, aufwuchs und getötet wurde. Der Vierzigjährige, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, sagt: «Der Widerstand wächst. In den Flüchtlingslagern bilden sich bewaffnete Zellen. Sie bestehen heute vielleicht nur aus einigen hundert oder tausend Männern, doch sie haben enormen Einfluss, besonders auf die Jugend.»
Saleh redet von den «Jenin-Brigaden» oder den «Löwen von Nablus». Niemand weiss so genau, wer sich dahinter verbirgt, wie viele es sind und wer sie unterstützt, finanziell und mit Waffen. Sicher ist, sie agieren autonom, sind keiner Partei verpflichtet, wieder der Hamas, dem Islamischen Dschihad oder der Fatah.
Inzwischen gibt es solche Brigaden nicht allein in Jenin und Nablus, sondern auch in Tulkarm, in Jaba oder Tubas, und es werden, vor allem im Norden der Westbank, immer mehr. Dass die Jenin-Brigaden – die ersten dieser Art seit Jahren – 2021 gegründet wurden, ist für Saleh kein Zufall. Damals hatte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, Jahrgang 1935, die erste demokratische Wahl nach fünfzehn Jahren im Amt verhindert.
«Viele zuckten bloss mit den Schultern, andere aber murrten, nun nehmen wir die Sache selbst in die Hand, aber richtig», sagt Saleh. Dass es jetzt wieder an der Bevölkerung sei, das vermitteln auch die Kämpfer der Brigaden in ihren Videos auf den Sozialen Medien, die zehntausendfach angeklickt werden: «Die Zeit des Wartens ist vorbei, wir sind bereit!»
Jugendliche seien besonders anfällig auf den Heldenkult der Brigaden, sagt Sozialarbeiter Khaled Saleh. «Sie sind in dieser Phase ihres Lebens unsicher, suchen nach Halt. Schule, Sport, Soziale Medien, gut und recht – und sonst?» Vor allem die Kids aus den Flüchtlingslagern hätten kaum Perspektiven. Für die anderen, die palästinensische Mittelschicht, seien sie Störfriede, ungebildet und gewalttätig, niemand wolle mit ihnen etwas zu tun haben. «Zugleich sehen die Kids Videos und Reels der Brigaden, wie sie sich bewaffnen und sich als die Befreier Palästinas inszenieren, als letzte Hoffnung. Und laufen Tag für Tag an den Plakaten der Märtyrer vorbei – kein Wunder, werden die zu ihren Identifikationsfiguren», sagt Saleh.
«Und was, Jamal, ist mit euch, mit euch Jungen? Wollt ihr werden wie die Kämpfer von Jenin, die Löwen von Nablus?»
«Wir sind allein, niemand hilft uns.»
«Euer Präsident hat versprochen, für die Leute in den Flüchtlingslagern zu sorgen.»
«Bah! Der alte Mann lässt sich kaufen, er steckt die eigenen Leute ins Gefängnis und verhandelt mit dem Feind», wirft Jamal ein, der 14-jährige Bub, weswegen sie nicht mehr stillhalten dürften, sich wehren und kämpfen müssten, mit Steinen, Flaschen, Benzin und der Wut, und er zitiert wieder einmal einen Satz aus Omars Brief, jetzt mit Pathos: Auf dass die kommenden Generationen in Freiheit leben mögen.
Wo vor Kurzem noch Omar Plakate von Märtyrern an die Wand kleisterte, im Flüchtlingslager Dheisheh bei Bethlehem, sind nun überall Poster mit seinem Gesicht zu sehen, über dem Eingang zum Camp, entlang der Friedhofsmauer, beim Markt und vor der Schule, auf den Heckscheiben der Autos, auf T-Shirts und daheim, im Haus von Samira und Munir: Omar, auch Baklava genannt, mit einer Baseballmütze, im Trainingsanzug Marke Adidas, darüber die Worte: im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
Ich träume von vielem, auch das stand in Omars Brief.
«Töten sie einen von uns, so töten sie uns alle», sagt Mutter Samira. «Niemals wird dieser Schmerz ein Ende haben. Und der Schmerz einer Mutter ist die einzige Wahrheit.»
Jamal nimmt ihre Hand, sie versucht zu lächeln. Jeden Tag komme er vorbei, sagt Jamal, der einen schwarzen Hoody mit Omars Konterfei trägt, denn auch das stehe im Brief: Besucht meine Mutter, lasst sie nicht allein.
Dieser Brief, der so viel Trauer hinterlässt und neue Wut.
«Ich wünsche mir», sagt Samira, «mein Sohn wäre der Letzte gewesen und niemand trage je wieder einer dieser Briefe bei sich.»
Doch Jamal sagt bloss: «Du wirst schon sehen.»