Die Vergessenen von Horgoš
Text und Fotos: Klaus Petrus, Magazin Süddeutsche Zeitung (10.05.2018)
Im serbischen Grenzdorf Horgoš harren Flüchtlinge seit Wochen und Monaten aus, für sie ist die Grenze nach Ungarn unüberwindbar geworden. Einer von ihnen ist der Pakistaner Amar Z., dessen Reise vor Jahren hoffnungsvoll begann – und der nun jede Hoffnung verloren hat.
Horgoš, im Februar 2018
»Hörst du sie?« Amar Z. hält sich den Finger an die Lippen. Wer sich dem Zaun nähert, wird verhaftet! Geht zurück! Ihr seid hier nicht willkommen! »Jede Stunde bellt diese Stimme in die Sprechanlage, Tag und Nacht. Als wären wir taub.« Amar Z. blickt über das randlose Feld mit nichts darauf, dreihundert Meter von der ungarischen Grenze entfernt. Er weiß, wie es drüben aussieht, er war schon oft dort. Dasselbe Schneetreiben wie hier, dieselbe Leere, aber eben drüben. Und nicht hier.
Seit vorigem September haust Amar Z. mit mehr als drei Dutzend anderen Pakistani in einem verfallenen Getreidelager aus Backsteinen, eine knappe Stunde von Horgoš entfernt. Und wartet. Manchmal kramt er sein kleines, zerfleddertes, rosafarbenes Notizheft hervor und schreibt ein paar Zeilen:
22. Februar 2018, Horgoš. Bismillahir rahmanir rahim, Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Jeden Tag schaue ich zur Grenze hinüber. Was soll ich meiner Familie sagen, meinem Vater? Er hat alle Hoffnung in mich gesetzt, hat alles Geld in mich investiert (und der Onkel wohl auch). Was sage ich meiner Mutter, was meinen Brüdern?
Amar Z. weiss es nicht. Es hat wieder geschneit, der Wind weht durch das Mauerwerk ins Innere des Gebäudes, Amar Z. zieht sich die Decke über und will schlafen.
Horgoš, zweieinhalb Jahre früher
Es lag eine bedrückende Stille über dem serbischen Dorf an diesem 16. September 2015, so werden die Medien später berichten. Bis ungarische Polizisten auftauchten und die Menschenmenge, einige hundert Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Pakistan, hinter den neuen Zaun drängten. »Ihr seid hier nicht willkommen!«, schrien sie in ihre Megaphone. Dann brach Chaos aus, es flogen Steine, Tränengasgeschosse, es wurde getreten, geschlagen und geknüppelt. Noch am selben Tag gingen die Bilder von der Straßenschlacht um die Welt. Und Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident, verkündete: »Ich setze nur um, was mein Volk will. Ungarn bleibt migrantenfrei.«
Zwei Wochen davor hatte Angela Merkel auf einer Pressekonferenz zur Flüchtlingskrise gesagt: »Wir schaffen das!«
Waziristan, etwa zur selben Zeit
Nun war es beschlossene Sache. Amar Z. sollte bald aufbrechen, mit dem Segen des Vaters. Weg aus seiner Heimat Waziristan, dem Berggebiet voller Taliban im Nordwesten Pakistans, das der ehemalige US-Präsident Barak Obama einmal die »gefährlichste Region der Welt« nannte. Doch er wird nicht, wie seine älteren Brüder, nach Osten gehen, er will nach Europa. In den Nachrichten hatte er von Merkel gehört und von einer neuen »Willkommenskultur«: »Kommt nach Deutschland, wir schaffen das!« Deutschland, das klingt wie Amerika, hatte sich Amar Z. gedacht, jeder darf tun, was er will, jeder hat Arbeit, fährt ein Auto. Aber Deutschland ist weit weg.
»Alles wird gut«, hatte sein Vater zu ihm gesagt.
Auf einen Zettel schrieb er die Namen von Ländern: Iran – »dort findest du vielleicht Arbeit, mein Junge« –, Türkei, Griechenland, Mazedonien, dann immer nordwärts in Richtung Österreich, Deutschland, Merkel.
Und so hatte sich Amars Vater diese Reise vielleicht vorgestellt: Wie sein Sohn, damals 18-jährig und in der Heimat ohne jede Perspektive, im Herbst 2015 aufbricht und viele Grenzen überquert, zu Fuss, im Zug, per Bus oder auf dem Lastwagen eines Schleppers. Wie er, krank vor Heimweh, noch vor Neujahr Deutschland erreicht (»Hamburg, endlich!«), und wie er dann, der emsige Amar, Deutschkurse absolviert, Kontakte knüpft, sich eingliedert, Arbeit findet und ein wenig Geld an die Familie schickt, die stolz ist auf ihren Amar, der schon bald ein Mädchen kennenlernen wird in diesem Deutschland, hoffentlich.
Aber so kam es nicht.
Budapest, im Sommer 2015
Als Amar Z. in den Westen aufbrach – Europa vor Augen –, war Orbán längst gerüstet. In den Sommermonaten des Jahres 2015 ließ er in ganz Ungarn Plakate aufhängen, auf denen in der Landessprache Migranten kriminalisiert und zu einer Gefahr für die »christliche Identität Europas« erklärt wurden. Wenig später setzte er im Parlament ein neues Einwanderungsgesetz durch und errichtete an der Grenze zu Serbien einen Zaun, 175 Kilometer lang und drei Meter hoch.
Proteste gab es kaum. Im Gegenteil, Orbán baute einen zweiten Grenzzaun. Seine Sicherheitsberater warnten vor 10 000 Geflüchteten, die allein in Serbien darauf warteten, über Ungarn in die EU zu gelangen, 80 000 sollten es auf dem gesamten Balkan sein und weitere Millionen standen angeblich schon in Afrika bereit. Weite Teile der ungarischen Bevölkerung schenkten Orbán und seinen Kumpanen Glauben. Immerhin durchquerten in den Jahren 2014 und 2015 laut UNHCR an die 60 000 Geflüchtete das Land und nicht wenige blieben hängen. Den Ungaren machte das Angst.
Als dann im März 2016 die Balkanroute geschlossen wurde, sah sich die ungarische Regierung in ihrer rigiden Flüchtlingspolitik auf der ganzen Linie bestätigt. Tatsächlich ging danach die Zahl der Geflüchteten, die zum Beispiel nach Deutschland wollten, massiv zurück. Kamen 2015 insgesamt 759 000 Asylsuchende über die bayerische Grenze nach Deutschland, waren es 2016 noch 155 000.
Lesbos, Ende Februar 2016
Von all dem erfuhr Amar Z. in den Sozialen Medien: von einem ungarischen Präsidenten, der vor den Toren Europas eine Festung errichten wollte; der ein Heer brutaler Polizisten befehligte; der sagte, jeder Flüchtling sei ein Terrorist.
Auf dem Weg durch den Iran fand Amar Z., wie sein Vater vorausgesagt hatte, für drei Wochen Arbeit in einer Textilfabrik, und auch in der Türkei konnte er auf dem Bau ein wenig Geld verdienen. Von dort gelangte er Ende Februar 2016 nach Lesbos. Zwar brannten damals in Camp Moria, dem bis heute grössten Hotspot der griechischen Inseln, noch keine Container. Doch die Lage war bereits prekär und die Geflüchteten waren nervös. Dass sich die Schliessung der Balkanroute auch auf Lesbos bemerkbar machte – es kamen ab März 2016 nur noch wenige hundert Menschen pro Monat an, davor waren es zehntausende –, störte Amar Z. nicht. Das erhöht bloß meine Chance auf ein Schlupfloch, dachte er bei sich.
Zu jener Zeit kaufte Amar Z. ein kleines, rosafarbenes Notizheft. Darin schrieb er manchmal seine Gedanken nieder und notierte alle Ausgaben für die Schlepper: 3. Oktober ’15: Araber M., Lastwagen, Iran: 170 000 Pakistanische Rupien.
Das sind umgerechnet 1200 Euro. Eine Menge Geld, dachte Amar Z. Doch jetzt war er endlich hier, in Europa, und Deutschland war nur ein Steinwurf entfernt, so kam es ihm vor. Also fädelte Amar Z. alles Nötige ein und machte sich erneut auf: 8. März ’16: Türke S., Boot, Lesbos-Idomeni, 700 Euro. 11. März ’16: Araber K., Lastwagen, Mazedonien-Serbien, 2 500 Euro.
Belgrad, Subotica, etc., März bis Spätsommer 2016
Als Amar Z. Mitte März in Belgrad, Serbiens Hauptstadt, eintraf, war er voller Zuversicht. Dass die Balkanroute jetzt offiziell geschlossen war, hielt ihn jedenfalls nicht davon ab, es erst recht zu versuchen. Und er war nicht alleine. Ab März 2016 harrten immer mehr Geflüchtete in Serbien aus. Zuerst waren es knapp 1000, ein Jahr später schon zehnmal mehr. Und so passierte, was viele Serben bereits im Herbst 2015 befürchteten, als Orbán die Grenze zu Ungarn dicht gemacht hatte: Ihr Land wurde für die Flüchtlinge zur Sackgasse.
Aleksandar Vučić, Serbiens Ministerpräsident, wollte die Bevölkerung beruhigen und stellte sich, zumindest verbal, gegen die Flüchtlingspolitik seiner Nachbarn: »Zäune sind keine Lösung!«. Anders als Ungarn und Bulgarien, so Vučić, sehe Serbien die Vertriebenen nicht als Bedrohung, sondern als das, was sie sind: Menschen in Not.
Allerdings wusste auch Vučić, der im April 2017 zum Präsidenten gewählt wurde, wie unattraktiv sein Land selbst für jene sein muss, die vor Krieg und Verwüstung fliehen. Schätzungen zufolge durchquerten zwischen 2014 und 2017 drei Millionen Geflüchtete Serbien, weniger als 2000 beantragten Asyl.
Ein Grund dürfte sein, dass grosse Teile Serbiens verarmt sind. Mit der Privatisierung der staatlichen Unternehmen hatten viele ihre Jobs verloren, speziell im Norden, wo die Arbeitslosigkeit bei 20 Prozent liegt. Wer noch Arbeit hat, verdient im Schnitt 300 Euro monatlich. Nicht wenige versuchen ihr Glück im Ausland, sie putzen, nähen, kellnern. Tatsächlich hat Serbien den größten Bevölkerungsrückgang in ganz Europa. Mit sieben Millionen Einwohnern zählt das Land fast eine halbe Million weniger Menschen als noch vor zehn Jahren.
Als Amar Z. am 17. März 2016 in Belgrad in den Bus nach Subotica an der serbisch-ungarischen Grenze stieg, schrieb er auf der Fahrt in sein Heft: Es gibt immer einen Weg. So Gott will.
Doch die Gruppe Pakistani, mit der Amar Z. seit Lesbos unterwegs war, wurde schon bald von der serbischen Polizei aufgegriffen und in ein Zeltlager nach Šid nahe der kroatischen Grenze gebracht. Dort wurde später ein staatliches Camp errichtet, eines von inzwischen 17 Lagern, in denen sich die Geflüchteten registrieren lassen können, falls sie von der Unterstützung der serbischen Regierung profitieren möchten.
Doch Amar Z. wollte nicht registriert werden. Wer sich in Serbien polizeilich erfassen lässt, so hatte er gehört, wird in Ungarn als Kandidat für die Weiterreise gemeldet.
Schon damals waren es nur an die 40 Personen am Tag, die auf Geheiss der ungarischen Regierung einreisen durften (heute sind es noch zwei). Dann lieber auf eigene Faust, dachte Amar Z. In den kommenden Monaten durchquerte er immer wieder das Land, er marschierte tagelang auf Feldwegen oder an Gleisen entlang, er fuhr Bus, lebte im Unterholz oder in verfallenen Gebäuden irgendwo in der Einsamkeit. Und er traf auf Schlepper, die ihm schon wieder das gelobte Europa versprachen, eines mit Arbeit und einem Haus samt Wasser und Strom.
4. August ’16: Araber O., Lastwagen, Serbien-Ungarn-Österreich: 4 500 Euro.
Zum ersten Mal dachte Amar Z.: Wenn das nur gut geht!
Waziristan, vielleicht im Sommer 2016
Etwa alle zwei Monate rief Amar Z. seine Familie an, einmal, im Sommer 2016, schrieb er einen Brief, vielleicht war es auch eine Karte, er kann sich nicht mehr erinnern. Darin nannte Amar Z. die Namen von Städten, in denen er in den vergangenen Wochen war. Womöglich dachte er, zuhause würde man meinen, er komme gut voran.
In Wahrheit blieb Amar Z. in Serbien stecken, er drehte sich höchstens im Kreis, fuhr von Belgrad nach Subotica, von dort nach Šid, von Šid nach Belgrad, von Belgrad nach Sombor und wieder zurück. Dann berichtete er noch übers Wetter, erzählte von seinen neuen Freunden und bedankte sich fürs Geld.
Was sein alter Vater wohl gedacht haben mag, als er diese Zeilen las, das hatte sich Amar Z. oft gefragt. Ob er ahnte, dass es schwierig werden wird; dass Deutschland immer weiter in die Ferne rückte, je näher er kam; dass seinen Sohn Zweifel überkamen, er öfters zu beten begann?
Als Amar Z. das nächste Mal nach Hause telefonierte, redete sein Vater bloß von der Arbeit, von Amars Schwestern und seinen Tanten, und dann sagte er, was er immer sagte: «Alles wird gut, mein Junge.» Und auch Amar Z. sagte: «Alles wird gut.» Weil alles andere nicht sein durfte, weil alles gut werden musste.
Subotica, im Herbst 2016
Notizen aus Amars Heft: Anfangs August 2016, Subotica. Wir machten uns kurz vor Mitternacht zu viert auf, krochen stundenlang durchs Unterholz, am frühen Morgen kreisten sie uns auf einem Landweg ein. Wir konnten nicht mehr weg. Sie brachten uns in ein Gebäude, das war leer. Dann schlugen sie uns mit Stöcken. Mussten uns ausziehen und wurden mit Füssen getreten. Zwei von uns überschütteten sie mit Wasser, sie lachten uns aus. Dann fuhren sie zur Grenze zurück und setzen uns auf der serbischen Seite auf einem Feld aus. »Das nächste Mal bringen wir euch um«, schrien sie uns hinterher.
Die ersten Gerüchte tauchten im Herbst 2016 auf. Es war von Schlagstöcken die Rede, von Tränengas und scharfen Hunden, die sie auf die Geflüchteten hetzen. Und davon, dass sie den Flüchtlingen ihre Handys und alles Geld wegnehmen. Schon bald nannte man sie nur noch die »Grenzjäger«.
Tatsächlich patroullierte die ungarische Polizei schon seit Sommer an der Grenze und hielt gezielt Ausschau nach Flüchtlingen, die versuchten, illegal nach Ungarn zu gelangen. Zuerst wurde diese Grenzpolizei aus Polizeischülern rekrutiert. Aber schon nach wenigen Monaten durften sich alle bewerben, die von den ungarischen Behörden als unbescholten eingestuft wurden, sich für die sechsmonatige Ausbildung fit genug fühlten und mindestens 1,60 Meter gross waren.
Als sich die Übergriffe zu häufen begannen und es immer mehr Bilder von aufgeschlagenen Lippen, Blutergüssen an den Beinen, geschwollenen Augen und verdrehten Armen gab, wurden die Vorfälle von internationalen Organisationen wie Oxfam, Human Rights Watch oder Médecins Sans Frontières (MSF) untersucht und bestätigt.
Seitens der ungarischen Regierung gab es keine offizielle Stellungnahme. Stattdessen ließ Orbán verlauten, Organisationen wie MSF würden mit dem ungarisch-amerikanischen Milliardär George Soros kooperieren, dem es gar nicht um Menschenrechte und Flüchtlingshilfe gehe, sondern um ein lukratives Business mit der Migration. Alles in allem handle es sich bei diesen Vorwürfen um haltlose Lügen.
Nachdem Amar Z. von den »Grenzjägern« aufgegriffen wurde, sagten die anderen Geflüchteten zu ihm, das sei normal, das gehöre zum »Game«, wie sie den Versuch, unbemerkt über die Grenze zu gelangen, nannten. Also steckte Amar Z. die Prügel ein und rüstete sich fürs nächste Spiel, mal mit Schlepper, meistens ohne. Zweimal, fünfmal, neunmal, man redete schon scherzhaft von »Tausendundeiner Flucht«.
Im November 2016 hörte Amar Z. mit dem Zählen auf. Er wurde müde, wollte nur noch schlafen.
Belgrad, Dezember 2016
Belgrad, Ende 2016, hinter dem Busbahnhof. Bei Minustemperaturen hausten hier 1500 Geflüchtete in heruntergekommenen Barracken, verzweifelt, verloren, alleingelassen.
Bis Hundertschaften von Journalisten ins Land flogen, um die Schicksale der jungen Männer niederzuschreiben: Flucht ohne Ende, von den Taliban an Leib und Leben bedroht, jetzt in Serbien gestrandet, erschöpft, wissen weder vor noch zurück, alle Hoffnung ist dahin. Die Fotografen zeigten traurige Gesichter, in graue Decken gehüllt, dahinter ein Feuer, das aus einer Mülltonne lodert.
Doch bald waren die Journalisten wieder weg, Weihnachten kroch an Amar Z. und seinen Freunden vorbei, das neue Jahr begann. Es tat sich nichts. Und als Anfang März 2017, also keine zwei Monate später, die Lagerhallen hinter Belgrads Busbahnhof geräumt und bald darauf abgerissen wurden, berichtete kaum jemand mehr darüber.
Subotica, März bis September 2017
Auch Amar Z. war zu jener Zeit in Belgrad. Plötzlich sei die serbische Polizei aufgetaucht, da hieß es packen und sich in eine Liste eintragen, erinnert er sich. Tags darauf wurde er von Belgrad in den Nordosten nach Adaševci in ein Lager bei Šid gebracht, das war schon damals hoffnungslos überfüllt. Zwei Tage später schlich sich Amar Z. mit anderen zusammen fort, sie stiegen in einen Bus nach Subotica, zehn Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt.
Es war der 10. März 2017. Amar Z. breitete seine Kleider und einen kleinen Kupferkessel in einer verlassenen Ziegelei außerhalb von Subotica aus. Nach ein paar Tagen fiel ihm erst auf, dass er vor einem Jahr schon mal an diesem Ort gewesen war. Hier blieb Amar Z. die nächsten sieben Monate. Zeitweise waren sie an die 200 Geflüchtete, verteilt auf drei Gebäude. Ohne fließend Wasser, ohne Toiletten, ohne Strom. Decken, Kleider und Essen bekamen sie von lokalen Organisationen, oder sie mussten sich selbst helfen.
Notizen aus Amars verschmutzen Heft: Bismillahir rahmanir rahim, Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen. Subotica, ein Tag gleicht dem anderen. Wir kochen lange, reden wenig, wir spielen Volleyball, chatten, schlafen, träumen. Wobei sie weniger werden, die Träume. Dafür werden die Nächte länger und die Tage auch. Schlafe viel, bin immer müde. Schlafe, um nicht wach zu liegen, nicht denken zu müssen, nicht krank zu werden (hier wird man noch verrückt!). Um nicht zu verzweifeln. So geht es uns allen, was soll ich sagen.
Und hinter diesen Zeilen steht wieder eine Liste:
4. Juni ’17: Araber M., Lastwagen, Serbien-Ungarn-Österreich: 5 500 Euro. 27. August ’17: Araber O., Lastwagen, Subotica-Kelebija-Tompa: 250 Euro. 24. September ’17: Araber K., Lastwagen, Subotica-Kelebija-Tompa: 350 Euro.
Amar Z. plagte das schlechte Gewissen. Und manchmal dachte er daran umzukehren. Doch er wusste, was er seiner Familie nach Hause bringen würde: die Scham.
Horgoš, am 22. Februar 2018
Bei uns würde man sagen, dieser Mann ist Mitte dreißig. Dabei ist Amar Z. erst einundzwanzig geworden. Das war vor drei Wochen, es ist der 22. Februar.
Amar Z. wohnt jetzt mit anderen Pakistani in einem verfallenen Backsteinhaus, eines von drei Gebäuden auf diesem kargen Feld, eine knappe Stunde von Horgoš entfernt. Sie bereiten das Essen zu, Linsen, zerteiltes Huhn, dazu gibt es Fladenbrot. Der Raum ist verkohlt und stickig, im Feuer brennt das Plastik. Amar Z. schlurft nach nebenan, er hängt seine Wäsche auf, »dieser Dreck überall«, er spricht langsam, klagt über Müdigkeit und dass er eigentlich nur noch schlafen möchte und nichts mehr behalten kann in seinem Kopf, keine Namen, keine Bilder. Ansonsten: anderer Ort, gleiches Spiel.
Januar ’18: Serbe S., Lastwagen, Subotica-Kelebija-Tompa: 750 Euro.
Das viele Geld. Eine solche Summe kann sein Vater unmöglich allein aufbringen. Woher stammt der Rest? Amar Z. mag nicht daran denken. Vor kurzem wollte er die Beträge zusammenrechnen, doch dann legte er sein zerfleddertes, rosa Notizheft wieder beiseite.
Jetzt können sie ohnehin nicht weg, es hat geschneit, die Grenzpolizei würde ihre Spuren entdecken, sagt Amar Z. verbittert. Noch einmal werden sie darauf warten, bis es auftaut.
Und dann?
Es ist kalt, der Wind pfeift ihnen um die Ohren, sie ziehen sich ihre Decken über, stehen bei einer Mülltonne mit einem Feuer darin, so wie damals in Belgrad. Nur ist weit und breit keine Presse zu sehen. Warum auch, sie sind nur noch vierzig, vielleicht fünfzig, die Letzten von Horgoš sozusagen.
Amar Z. gehört zu denen, die überzeugt waren, dass man sie im Westen willkommen heissen wird. Und die jetzt nicht verstehen können, wieso man sie aussperrt. Die zwar wussten, dass es nicht leicht werden würde, die aber geglaubt haben, dass sie es am Ende schaffen. Und dass alles gut wird, weil alles gut werden muss.
Manchmal kramt der junge Mann aus Waziristan den Zettel hervor, den ihm sein Vater mit auf den Weg gab, vor zweieinhalb Jahren war das: Iran, Türkei, Griechenland, Mazedonien, dann ist da ein dicker Pfeil und darüber steht geschrieben: Österreich, Deutschland, Merkel. Entlang dieses Pfeils, der zwei oder drei Zentimeter lang ist, müsste Serbien sein, denkt sich Amar Z. dann. Und irgendwo dort oben Subotica. Und eine Haaresbreite daneben, der kleine Punkt da, das müsste Horgoš sein, dieses Dorf nahe der ungarischen Grenze.